Einfühlsamer Geschichtsunterricht
Wir schreiben das Jahr 1945. Der Krieg ist vorbei. Ein Neuanfang steht bevor. Wenn Du dies Buch bzw. die Rezension dazu im Jahre 2025 (bzw. den Folgejahren) hier liest, wirst Du jene Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr erlebt haben, was Carolin Otto so wunderbar in ihrem Roman mit einander verwebt: Fiktion, Wirklichkeit und Geschichte der deutschen Nachkriegszeit.
Die Geschichte von Berchtesgaden in der Nachkriegszeit, vom Wiederaufbau, von der Erneuerung der Demokratie und all den – für uns heute unvorstellbaren – Dingen, die es damals, Stunde Null, zu tun gab.
Der Autorin gelingt ein einfühlsamer Spagat zwischen fiktiver Story und realen Personen, die Symbiose von Romanhandlung und Realgeschichte. Sie erzählt die Liebesgeschichte vom schwarzen GI Sam und der Berchtesgadener Bauerntochter Sophie, skizziert das Leben des real existierenden Charakter Rudolf Kriss, der als Bürgermeister von BGD die Geschäfte ordnen soll. Sie gibt Einblicke in die NS Vergangenheit des Brudes und stellt auch die Amerikaner Meg und den Juden Frank vor. Sie vermittelt präzise und in hoher Erzählkunst die Ereignisse vor, während und auch ein Stückweit nach 1945, ohne anzuklagen, aber auch nicht freisprechend. Der Roman regt zum Nachdenken an und lässt Raum für eigene Sichtweise und Interpretation.
Wer vermag sich heutzutage schon vorstellen, wenn alles auf „reset“ gesetzt ist und man unvermittelt, auch wenn das Kriegsende sich ankündigte, sprichwörtlich bei einer Stunde Null steht. Wie geht eine Gesellschaft mit sich selbst um, wenn 10, 11, 12 Jahre lang eine Meinung die einzig prägende und mutmaßlich lange Zeit für „alle“ (!?) auch die einzig „richtig wahre“ war? Wie gelingt den „Besatzern“ in den ersten Wochen 1945 die Installation einer neuen Ordnung? All diese Fragen erfahren keine abschließende Antwort, aber der Roman „Berchtesgaden“ arbeitet eben diese Thematik wunderbar auf.
Mit ihren authentischen Protagonisten gelingt Carolin Otto eine sehr schöne Erzählung, eine runde Handlung. Sie leuchtet die Problemzonen, Rassismus, Nationalismus, Kriegshandlung, Kriegsverbrechen und vieles mehr zu jener Zeit sanft aus, ohne sie in grelles meinungsmachendes Licht zu setzen. Sie gibt den Charakteren eine Stimme ohne sie zu verurteilen, aber auch nicht freizusprechen.
Fazit: ein gutes Buch. Geschichte begreifbar machend und flüssig erzählt. Fiktive Realität, reale Fiktion. Authentische „Darsteller“ und bildgewaltiges Gesellschaftspanorama dieser symbolträchtigen Zeit: kurzum Tipp, ***** von 5.

(c) Udomittendrin. Okt25